Jon Merz Koerner

Vor den Toren der Kathedrale:

Jon Merz‘ Ausstellung Sohn des Glücks

Es mag zunächst erstaunlich anmuten, dass Jon‘ Merz expressiv-visionäre Malerei einer minimalistischen Praxis entspringt, die an Bildhauerei und Installationskunst orientiert ist. Merz‘ Arbeiten aus den frühen 2010er-Jahren, seine monochrom bemalten Holzkuben und Konstruktionen aus Sperrholzplatten oder Stahlstangen lassen an Post-Minimal und konzeptionelle Kunst der 1970er-Jahre denken, an Hard Edge und Farbfeldmalerei. Vor allem aber erinnern sie an eine deutsche Künstlergeneration dieser Zeit, die maßgeblich von den Utopien der russischen Avantgarde und dem Konstruktivismus inspiriert war:  Künstler*innen wie die Beuys-Schüler Imi Knoebel und Blinky Palermo, oder Charlotte Posenenske. Schon Mitte der 1960er hatten Knoebel und sein früh verstorbener Freund Imi Giese sich intensiv mit Kasimir Malewitsch und dessen Schrift Suprematismus und die gegenstandslose Welt beschäftigt, die In Deutschland noch kaum bekannt war. Das Transzendente des Suprematismus, das Pathos und das Sakrale der gegenstandlosen Abstraktion versuchten sie allerdings mit sich selbst und mit der Lebenswirklichkeit der abgebrühten, völlig materialistischen Konsumgesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre in Verbindung zu bringen. Wie auch bei Palermo oder Posenenske führt der Weg direkt in den Baumarkt, zu Materialien oder industriellen Produkten, die für jeden zugänglich sind. Anders als die Künstler der Minimal Art, die damals, wie Donald Judd, mit industriell gefertigten, makellosen Stahlkuben sehr weihevoll das Verhältnis zwischen Objekt, Raum und Betrachter reflektieren, sucht diese Generation nach einer schlichteren, weniger „cleanen“ Lösung. Auch Blinky Palermos suprematistisch auf Grundformen reduzierte Bilder entstehen eher im Geiste von Malewitsch: uneben, handgemacht, auf eine spirituelle Art bescheiden.

War dies die 2.0 Version der konstruktivistischen, gegenstandslosen Kunst, werden diese Strategien ab Mitte der der Nuller-Jahre im neuen Jahrtausend in einer 3.0 Version wieder relevant – auch für Jon Merz. Die Idee, die damals die Szene beherrscht, ist die sogenannte „Formalismus-Debatte“, in der darüber debattiert wird, ob man rein „formale“, abstrakte, gegenstandslose Kunst mit politischen, queeren oder popkulturellen „Inhalten“ aufladen kann, die sich nur durch die Form oder das Material vermitteln. Das ist nicht wirklich neu, sondern ebenfalls eine 3.0 Version des „schmutzigen“, emotional und sexuell konnotierten Minimalismus von Eva Hesse und Paul Thek Ende der 1960er-Jahre. Ähnlich wie in der klassischen Moderne oder in der konkreten Kunst in den 1970er-Jahren sollen auch die Werke des sogenannten Post-Minimal nichts darstellen, sondern eine unmittelbare, wortlose Erfahrung vermitteln. Dieses Denken bestimmt auch die Werke von Jon Merz in den frühen 2010er Jahren, die sich immer an der Grenze zwischen Malerei und Objekt bewegen, immer auch eine räumliche Erfahrung vermitteln.

Bereits damals setzt sich Merz mit den spirituellen, transzendenten Dimensionen der frühen Moderne auseinander. Deutlich zu sehen ist das 2014. In der Ausstellung Blue in der Berner Galerie Milieu zeigt er appropriierte Illustrationen aus den unterschiedlichsten Büchern aus völlig verschiedenen Epochen. Die Motive erscheinen zunächst unzusammenhängend: etwa ein gotischer Kronleuchter, der Ausschnitt einer Illustration aus Moby Dick. Sie assoziieren sich jedoch mit dem Weiß, dass die ganze Installation bestimmt. Der Raum ist in kaltes gleißendes Licht getaucht und von Merz mit minimalistischen, mit weißem Leinen bezogenen Schaumstoff-Kuben versehen worden, die Hybride aus Skulptur, Sarkophag, mumifiziertem Körper und Sitzmöbel sind – und die Natur des White Cube, die Idee eines unendlichen, abstrakten weißen Raumes aufgreifen. „Die Reproduktionen der Artefakte schaffen einen neuen Blick auf die Zeitlichkeit“ sagt Merz im Interview zur Ausstellung. „Die Bilder kommen aus diversen Quellen, sind Teil der Formengeschichte und erzählen von ihrer Beziehung dazu. Das Verhältnis ist ein veränderbares: Ideologische Programme führen zu spezifischen Formen“[1]. Man könnte dasselbe über spirituelle Programme sagen. Denn zugleich geht es bei Merz auch um die zeitlose Leere, das transzendente Nichts auf das diese Formen projiziert werden. So verweist das Motiv der Lampe auf die Idee des Lichts, der buchstäblichen Erleuchtung. In Hermann Melvilles Moby Dick (1851) ist mit „Das Weiß des Wals“ ein ganzes Kapitel der metaphysischen Betrachtung des Weiß, als Nicht-Farbe, Farbe des Todes gewidmet. Das Hauptmotiv der Ausstellung ist jedoch eine riesige Wandzeichnung, die die Umrisslinien des springenden Pferdes auf Wassily Kandinskys Gemälde Lyrical (Lyrics) zeigt, das 1911 entsteht, gerade als er den Sprung vom Expressionismus zur Gegenstandslosigkeit vollzieht. 1911 entsteht auch Kandinskys berühmte Schrift Über das Geistige in der Kunst.

Dabei ist dieses Bild vom sibirischen Schamanismus inspiriert, den Kandinsky noch als Student an der Moskauer Universität 1889 auf einer anthropologischen Studienreise kennenlernte. Zeit seines Lebens war er fasziniert von schamanischen Ritualen und Bräuchen, von der Mittlerrolle des Schamanen oder der Schamanin zwischen der materiellen und spirituellen Welt. Er bezeichnete sich sogar selbst als Schamanen. Sein Bild deutet auch eine Figur an, die auf dem Pferd reitet, im Sprung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Merz entledigt Kandinskys Motiv aller Farbe, das Ross von seinem Reiter und reduziert es auf schwarze Linien: „Das Motiv wurde als Bucheinband für eine Studie über den Expressionismus verwendet und dazu zurechtgeschnitten und horizontal gespiegelt. Ich kaufte das Buch und setzte mich mit dem Werk auseinander. Auf dem Computer zeichnete ich das Pferd aus der Malerei nach und schnitt es maschinell aus einer Klebefolie, die ich anschließend an der Wand befestigte.“ Die expressive „Zeichnung“ ist tatsächlich eine digitale Appropriation einer Reproduktion.

In dieser Ausstellung vollzieht sich auch in Merz‘ Werk die allmähliche Hinwendung zur Figuration, zum Expressiven – aber quasi rückwärts, regressiv, aus der Gegenstandslosigkeit heraus. In Blue werden ganz wesentliche Parameter für Merz‘ heutige Malerei gesetzt: Die Verbindung einer analytischen, konzeptionellen Malerei mit Affekt, Geste, Intuition. Die Beschäftigung mit Illustration, Grafik, Buchgestaltung, Kunsthandwerk. Das Interesse an reproduzierten, veränderten, „benutzten“ Images als Basis für den Malprozess- Die Etablierung der Line als wichtigstem Element in Merz Malerei. Und vor Allem: die Auseinandersetzung mit alchemistischen, schamanischen, spirituellen Symbolen, mit C. G. Jungs Idee der „Archetypen“, universell vorhandenen Strukturen, die wie ein archaisches Erbe in einem „kollektiven Unbewussten“, in der Seele aller Menschen ruhen. In den kommenden Jahren wird Merz seinen ganz spezifischen Stil entwickeln, der immer „fauvistischer“, „outsiderischer“, auch magischer wird. Sein Bildkosmos wimmelt von Geistern und Dämonen, Monstren, die an Hokusai und alte japanische Holzschnitte erinnern. Er ist aber auch durchsetzt von comicartigen Strukturen, Leerstellen, Zitaten aus der Malereigeschichte, gemalten Rahmen, durchscheinenden skizzenartigen Zeichnungen, die den Malprozess quasi dialektisch begleiten, kommentieren, den Affekt immer wieder runter kühlen. In Ausstellungen wie No Regrets, Hamburg 2018 oder Parade des Monstres, Neuchâtel, 2018 gibt es immer wieder Bezüge zu Art Brut, Asger Jorn und der CoBrA Gruppe, oder zeitgenössischen expressiven Malern wie etwa André Butzer.

Mit der aktuellen Ausstellung Sohn des Glücks vollzieht sich eine fundamentale Wendung in Merz Werk. Der Titel der Schau spielt auf ein berühmtes Zitat von Napoleon Bonaparte an. Als sein Stern 1813 sinkt und sich während eines Schlachtzugs durch Preußen eine europäische Allianz gegen ihn bildet, ruft er einen Waffenstillstand aus, um Zeit zu gewinnen. Der österreichische Außenminister Metternich, der sein ausgeblutetes Land vor einem weiteren Krieg bewahren will, trifft ihn in Dresden und bietet an, zu vermitteln. Doch Napoleon lehnt ab. Der revolutionäre Herrscher, der sich selbst gekrönt hat, macht dem Minister ein überraschend weichherziges Geständnis: “Eh bien, was will man von mir. Dass ich mich entehre? Nimmermehr! Ich werde zu sterben wissen, aber ich trete keine Handbreit Boden ab. Eure Herrscher, geboren auf dem Throne, können sich zwanzig Mal schlagen lassen und kehren doch immer wieder in ihre Residenzen zurück. Das kann ich nicht, ich, der Sohn des Glücks. Meine Herrschaft überdauert den Tag nicht, an dem ich aufgehört habe, stark und folglich gefürchtet zu sein.” Der Titel von Merz Ausstellung spielt mit beidem: Der Idee, dass Malerei eine Art Schlacht ist, bei der man unbesiegbar, ein selbsternannter „Sohn des Glücks“ sein muss – und der Idee, diese sehr männliche, kämpferische, egomanische Haltung aufzugeben.

Tatsächlich verändert sich in Merz aktueller Ausstellung der Gestus seiner Linien fundamental. Sie werden ornamentaler, organischer, empfindsamer, verspielter, fast wie Blumengirlanden auf den Rokoko Gemälden Fragonards. Vieles in seinem malerischen Duktus erinnert dann aber wieder an Munch, den Symbolismus, Gustave Moreau, die Malerei des Fin de Siècle und des Japonismus. In dem Liniengewimmel, das die Bilder wie ein dekadentes, sumpfig wucherndes Geflecht überzieht, meint man Monstren und Fratzen, hybride Körper zu erkennen die den Fieberträumen von Odilon Redon oder James Ensor entsprungen sein könnten. Immer wieder sind da fast impressionistische Stellen auf seinen Bildern, Licht, Schatten, Farbe, als ob man durch eine blühende Wiese von Monet streifen würde, aber in einer Großaufnahme, in der Blüten und Gräser in Pinselstriche zerfallen. Merz‘ neue, lyrische Gemälde erinnern auch an die ornamentalen Illustrationen und Vignetten einer spiritualisierten Natur, die William Blake für seine Gedichte anfertigte. Ausgestoßen von der Akademie arbeitete er bis zu seinem Tod als Graveur und Illustrator, arm, in Obskurität, weitgehend unbeachtet und wegen seiner Visionen geächtet.

Merz thematisiert in dieser Ausstellung eine dekadente, zartere, „unmännlichere“, androgyne Form der Spiritualität und Vision, die in der männerdomminierten Moderne immer wieder ausgeschlossen oder als exzentrisch heruntergespielt wurde. Spiritualität ist sowieso ein heikles Thema, das nicht zu der Vorstellung einer rationalen Moderne passt, die zwar transzendent sein kann, aber letztendlich immer der Aufklärung und den Wissenschaften verpflichtet ist. Was nicht den Tatsachen entspricht. Es stimmte schon nicht für die schwedische Theosophin und Spiritistin, Hilma Af Klint (1862-1944), die bereits 1906, lange vor Kandinsky kleinformatige gegenstandlose Gemälde malte, gewagte geometrische Kompositionen, die an Atome oder Zellkerne erinnern. Das Problem: Den Auftrag zu diesen Gemälden erhält sie bei einer Séance mit fünf anderen Frauen, in der ihr Geistwesen befehlen, ihre Bilder sollen die unvergänglichen Aspekte des Menschen entfalten. Das hat ihr bis heute Kritik beschert, sie gehöre nicht wirklich in den Kanon. Zu dumm nur, dass Kandinsky und Mondrian, die Götter der gegenstandlosen Kunst genauso überzeugte Theosophen waren. Mondrian schlief immer im Hauptsitz der Theosophen, wenn er in Paris war. Sie nahmen genauso an okkulten Pendel-Sitzungen teil, beschäftigten sich genauso mit Ektoplasma oder dem Gedankengut von Rudolf Steiner. Der spirituelle „Kitsch“, der Af Klint trotz der Gegenstandslosigkeit ihrer Bilder gerne unterstellt wird, findet sich ebenfalls in Kandinskys vom Jugendstil und russischer Volkskunst beeinflussten Märchenbildern oder den fragilen wunderschönen Blumen- und Baumbildern Mondrians, die aussehen, als würde er Pflanzenseelen malen. Diese Bilder wurden nicht versteckt, aber nicht an die große Glocke gehängt.

Dafür aber der neue Geist der geometrischen Abstraktion. Der müsse sich, schrieb Mondrian, “in allen Künsten ausnahmslos durchsetzen“[2]. Die neue Gestaltung „vernichte“ die Feindschaft zwischen den abstrakten und den „natürlichen“ abbildenden Künsten, sie schaffe die „Vereinigung aller Künste“[3]. Ein Leitbild des Bauhauses war, die Architektur als Gesamtkunstwerk mit den anderen Künsten zu verbinden. Deshalb verkündete man im Gründungsmanifest von 1919 auch: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau.“[4] Das Leitbild des „großen Baus“ orientierte sich an der mittelalterlichen Dombauhütte, die für den organisierten Bauablauf gotischer Kathedralen die unterschiedlichsten Handwerke umfasste, die alle zusammen an dem sakralen Gebäude arbeiteten. Und auch wenn man sich in der Moderne bei „primitiven“ Kulturen, in den Kolonien, in der Volkskunst, im Kunsthandwerk, in den Sphären des Häuslichen, Weiblichen, Religiösen, Mythischen, bei Kindern, „Geisteskranken“, oder Spiritisten bediente, war es doch erst Kunst, wenn es in der sehr männlichen und sehr weißen Kathedrale eingebaut war. Alles was sich nicht in eine Webwerkstatt scheuchen, kultivieren oder einordnen ließ, wurde in den Garten verbannt und blühte im Halbschatten oder im Gestrüpp, im Verborgenen. Sohn des Glücks ist eine Hommage an visionäre, schwärmerische Kunst, an diesen wilden Garten vor der Tür der Kathedrale, im Inneren des Künstlers.

Oliver Koerner von Gustorf

 

[1] Interview zwischen Jon Merz und Arthur Fink anlässlich der Ausstellung «Blue» in der Galerie Milieu, Bern, 11. April 2014

[2] Die neue Gestaltung: Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung, in Neue. Gestaltung, Neoplastizismus, Nieuwe Beelding, Bauhausbücher 5, Albert Langen, München, o.J. (1925), zitiert aus: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Hrsg. Charles Harisson und Paul Wood, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit, 2003, Band 1, S. 385

[3] Ebd.

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Bauhaus