STEFANIA PALUMBO Stephanie Stein D

 

MAPS OF NOTHING

STEFANIA PALUMBO

Angenommen, es wäre möglich, jedes einzelne Wort, seit dem Ursprung des Schreibens, auf einer Fläche unterzubringen: Wie viel Platz würde das beanspruchen? Wie viele Ebenen würde das füllen? Das Material, das Stephanie Stein für ihre künstlerische Arbeit verwendet, Graphit, lässt unmittelbar an seine am weitesten verbreitete Verwendung denken – die Schrift. Die Mehrdeutigkeit der Sprache hat absolute Macht über uns, und wir sind durch nichts imstande, uns von dieser zu emanzipieren. Alle Versuche, ein universelles Gesetz zu finden, das die ungreifbare Beziehung zwischen einem Wort und seinem wissenschaftlichen Bedeutungsgehalt definiert, ist die Triebfeder philosophischen Denkens. Aber genau diese Ambivalenz kann eine Diskussion anstoßen und bestenfalls in Ebenen geschriebener Worte akkumuliert werden.

Stephanie Steins Ausstellung Rein und Rausland bei Sauvage, Düsseldorf, umfasst eine konzentrierte Auswahl ihrer neuesten Arbeiten.Im ersten Ausstellungsraum sieht man sich mit einem großformatigen Raster – bestehend aus neun quadratischen Tafeln, die sich zu einem monochromen Landschaftsmotiv zusammenfügen – konfrontiert. Während die Arbeit auf den ersten Blick wie eine riesige Karte des Nichts anmutet, werden bei genauerer Betrachtung mögliche Interpretationsansätze offenbar, und es stellt sich ein Gefühl der Vertrautheit ein. Obwohl man vor einem zweidimensionalen Werk steht, aktiviert dessen polierte Oberfläche einen weiteren Sinn, der die Erfahrung vervollständigt: auch ohne die Arbeit zu berühren, ruft deren Textur weich konnotierte Sinnesempfindungen in einem hervor. Der Titel der Arbeit, 90-60-90, ist ein direkter Verweis auf die kanonischen Maße des vermeintlich perfekten Frauenkörpers, die numerische Definition von idealer Schönheit entlang einer überholten und doch gängigen Sicht, deren Oberflächliche hier durch den Abstraktionsgrad ad absurdum geführt wird. Nachdem mehrere Graphit-Schichten auf die Träger gepresst werden, wird die Oberfläche jeder der neun Platten mehrfach geschliffen. Der gesamte Prozess entspricht einem Oszillieren zwischen Aufdecken und Verbergen und schafft eine Dichte, die eine kraftvolle Ruhe ausstrahlt. Es ist, als würde man mit der Ursprache der Natur konfrontiert, die – indem sie alles und nichts enthält – ein figürliches Januswort offenbart.

Die für Stephanie Stein prägende Landschaft zeichnet sich durch ihre Rohheit aus. Der Raum zwischen Küste und Ozean offenbart die ganze Wahrheit der Landschaft – eine Wahrheit, die die Sprache der Kunst nicht zu erfassen vermag. Doch die Natur ist dazu in der Lage, und der geologische Ursprung des Graphits scheint den Archetyp in idealer Weise zu repräsentieren, da es ein unerwartetes Gefühl von Immanenz aufkommen lässt.

Marcus Steinweg hat es treffend zusammengefasst: Stephanie Stein erfasst mit ihren Geometrien der Determiniertheit und Indeterminiertheit Räume, die sich von der Realität emanzipieren.

Condition – eine weitere Arbeit der Ausstellung – hält einen durch die erneute Verwendung von Graphit in diesem unbestimmten Raum fest. Doch die klare Definition des architektonischen Elements der klassischen griechischen Säule als horizontaler Teil der Oberfläche bietet Gelegenheit, uns auf etwas Dekodierbareres zu fokussieren. Das durch die Verwendung eines so spezifischen Elements erzeugte Bild führt zu einem weiteren Aspekt von Steins Schaffen, als essenzieller Teil ihrer Auseinandersetzung: die Politik.

Die Definition des Selbst in einem sozialen Kontext ist der zentrale Aspekt natürlicher – und sicher nicht ausschließlich menschlicher – Persönlichkeitsentwicklung. In Anlehnung an Hannah Arendt geht Stephanie Stein davon aus, dass das Selbst von Privatleben, Familie, Gruppe und Herkunft emanzipiert werden muss, um zu wachsen und beitragen zu können – immer verbunden mit dem Risiko eines unglücklichen Verlorenseins.

Vor diesem Hintergrund wird die mit 90-60-90 angedeutete Kritik an der Verwendung von Zahlen als Maßstab für vermeintlichen Erfolg noch stärker politisch aufgeladen. Es geht um die Affirmation einer Freiheit, die aus eigener Initiative entsteht – aus der Fähigkeit zur Benennung und aus der Verantwortung für die eigene Handlung – als Position gegenüber Traditionen und Regeln, die die Realität als gemeinsam erlebte Erfahrung konstituieren.  Politik bedeutet, die conditio humana zu einer Bedingung von Pluralität zu erklären.

Der Titel der Ausstellung Rein und Rausland ist auch der Titel einer in der Ausstellung präsentierten Videocollage, die Staubaufwirbelungen hinter einem schnell fahrenden Fahrzeug zeigt und die aus der Heckscheiben-perspektive zu sehen sind. Die Videoschleife wird von einer Szene aus Elio Petris Film Der Weg der Arbeiterklasse ins Paradies überlagert, in der ein Neonlicht zu Beginn eines Fabrikarbeiter-Aufstands gegen die von den Eigentümern repräsentierte kapitalistische Macht zerbrochen wird und die Bruchstücke zu Boden fallen. Diese Bewegung von zerbrechendem Licht und herabfallenden Scherben geben dem aufwirbelnden Staub hinter dem rasenden Fahrzeug eine Dringlichkeit, die mit Flucht-vor-einem-Seinszustand konnotiert ist. Die hier suggerierte Diskrepanz spiegelt sich im Titel der Arbeit wider. Einmal mehr repräsentiert die intellektuelle Bewegung des Rein und Rausland, die Stein selbstbewusst als Ausdruck ihrer eigenen künstlerischen Sprache verwendet, den Konflikt, der die menschliche Existenz ausmacht. Wir befinden uns ständig in der Situation, aus vielen Optionen wählen zu müssen. Unser freier Wille erweist sich gleichermaßen als Fluchtinstrument und als Falle. Das Definieren eines Möglichkeitsraumes, in dem die Wahl noch nicht getroffen wurde, in dem die Sprache noch nicht durch ihren Gebrauch korrumpiert ist, bleibt das zentrale Anliegen.

Die wiederholte Verwendung einer historischen Fotografie von Kindern in einer – von brutalistischer Architektur dominierten – Spielplatz-Szene verdichtet sich zum philosophischen Streifzug des Selbst. Jeweils mit einem Siebdruckbuchstaben versehen – I auf der einen, O auf der anderen – ergeben die beiden Fotografien zusammengenommen den Titel IO, ital. „ich“. Somit trägt das Abbild unserer Unschuld die Aufschrift „ich“ – das pasolinische Bild einer Unbestechlichkeit, die von Figuren verkörpert wird, die zwischen Akzeptanz und Widerstand hin und hergerissen werden.